Ein Bild ist immer mehr als das, was zu sehen ist. Ein Bild ist das, was übrig geblieben ist von einem längeren Prozess der Schöpfung. Es steht vor uns als das Ergebnis eines ausgedehnten Entwicklungsvorganges, der, wenn er am Anfang steht, ein Aufbruch ins Ungewisse ist. Eine Künstlerin wie Eva Kaiser macht sich ans Werk, ein Bild zu schaffen, aber wie es tatsächlich aussehen wird, davon hat sie noch keinen Begriff. Sie hat jedoch einen Begriff davon, wie es nicht aussehen soll. Deshalb verfolgt sie mit größter Skepsis die Entwicklung eines Bildes.
Dann ist sie Künstlerin und kritische Instanz zugleich. Sie verfolgt das Werden mit Zuversicht und Skepsis und weiß, wann sie sich verrannt hat. Hier stimmen die Farben nicht zusammen, dort entstehen Formen, die ihr nicht ins Bild passen, und so beginnt sie zu korrigieren, arrangiert die farblichen und formalen Verhältnisse neu. So verändert sich das Bild, es gewinnt an Kraft, an Intensität, an Ausstrahlung. Wann beginnt das innere Leuchten, wann steht es da als unverrückbare Größe, die so, wie sie jetzt aussieht, stimmt und keinem weiteren Zugriff von außen mehr zugänglich ist?
Das Bild, wenn es für vollendet erklärt und einer Ausstellung für würdig befunden wird, lässt nichts mehr spüren von diesem schwierigen Ereignis des allmählichen Heranwachsens. Die Qual und die Freude, das Kalkül und die Spontaneität sind aufgehoben in ihm, sind nicht mehr zu sehen. Aber ohne diese Qual und diese Freude, ohne dieses Kalkül und die Spontaneität wäre es nicht vorhanden. Aber wenn man genau hinschaut, richten diese Bilder mit uns etwas Vergleichbares an. Sie quälen uns, weil sie uns allein lassen, uns keine Hilfe leisten, damit wir uns in dieser Eva Kaiser-Welt zurecht finden. Sie erfreuen uns, weil wir, wenn wir schon keine Hilfe bekommen, uns die Freiheit nehmen, uns im Bild nach unseren eigenen Vorstellungen zu bewegen. Wir schauen, wie die Farben miteinander umgehen, wenn sie direkt aufeinanderprallen, wir beobachten, wie sich Formen und Strukturen herausbilden, die anderswo nicht zu finden sind, wir staunen, wie sich eine Einheit herausbildet, die aus lauter voneinander unabhängigen Bewegungen hervorgegangen ist. Diese Bilder verfuhren uns zum Kalkül, weil wir auf unsere Vernunft bauen, wenn wir auf uns allein gestellt sind, und so suchen wir nach vernünftigen Erklärungen, halten uns an das Sichtbare, an den heftigen Pinselstrich, das Verfließen der Farben, achten darauf, wo sich ein Zentrum finden lässt, auf das alles zustürzt und von dem alles fortstrebt. Wir folgen den Bewegungen, die den Bildern eingeschrieben sind. Wir bekommen nach und nach heraus, wo sich Ereignisse drängen und wo sich Stellen öffnen, in denen der Stillstand eingetreten ist. So geraten wir in Unruhe, weil die Bewegung, das Drama der Farben und Formen uns keine Auszeit gestattet, und wir vertrauen uns einer kontemplativen Stimmung an, wenn wir in den Bann der ausgeglichenen, beruhigten Fläche geraten.
Das ist kein Widerspruch: Die Bilder von Eva Kaiser sind heftig bewegt und zum Stillstand gekommen gleichzeitig, es kommt nur darauf an, auf welche Seite des Gefühlsbarometers wir uns gerade schicken lassen. Auf der Nachtseite des Kalküls befindet sich die Spontaneität, und so sind Eva Kaisers Arbeiten ohne diesen Zustand des Ausgesetztseins nicht zu haben. Kaiser verlässt sich auf die rasche Geste, den unberechenbaren Einfall, der sich jetzt und nur jetzt einstellt. Sie überlässt sich der Wildheit des inneren ungebändigten Ausdruckwillens, der nicht schön, perfekt und gelungen sein will, sondern seine individuelle Spur des augenblicklichen Empfindens hinterlassen will. Erst im Abstand sieht die Künstlerin, was von diesen ihren spontanen Vulkanausbrüchen zu halten ist und beginnt das Bild zu überarbeiten, zu gestalten, umzuformen, sie bändigt ihre Spontaneität durch die Macht ihres Willens. So sind diese Bilder ein steter Kampf zwischen Vernunft und Unvernunft, Spontaneität und Kontrolle. Und wer will, sieht, dass dieser Kampf noch lange nicht abgeschlossen ist. Er findet nach wie vor statt in jedem einzelnen Bild. Die Raserei attackiert die Organisation, die durchdachte Struktur gerät in Konflikt mit der ungeformten, rohen Materie. Jedes Bild ein neuer Versuch, mit dieser inneren Spannung in Farbe und Form zurande zu kommen.
Eva Kaiser hat studiert bei Jacobo Borger und bei Hermann Nitsch, hat sich von bei den beeinflussen, aber nicht unter Druck setzen lassen. Sie hat sich das Rüstzeug des Handwerks verschafft, und jetzt ist sie unterwegs, ihre eigene Identität als Künstlerin zu finden. Das machen andere auch, aber einfacher haben es jene, die sich mit der Nachahmung abfinden. Sie geben sich zufrieden mit dem, was sie können, es drängt sie nicht, die Grenzen des leicht Möglichen zu unterminieren. Eva Kaiser aber setzt sich mit jedem Bild neu dem Wagnis aus, etwas auszuprobieren, was es ohne sie nicht geben würde.
„Weh dem, der Symbole sieht“, heißt es bei Samuel Beckett, dem großen Dichter aus Irland. Er könnte das Leitmotiv geschaffen haben für die Kunst der Eva Kaiser, die hier zu sehen ist. Sie weigert sich, ein Abbild der sichtbaren Welt zu leisten. Sie wehrt sich mit aller Kraft dagegen, in Andeutungen und Kürzeln zu sprechen, die etwas aussagen über den Zustand, in dem wir uns gerade befinden. Sobald sie das Gefühl hat sie könnte – wie versteckt auch immer – Fragmente einer uns vertrauten Wirklichkeit ins Bild gesetzt zu haben, beginnt sie diesen Anschein zu zerstören. Ihre Bilder sind Farbe und Form, sie kommen aus den Tiefen des Ich, wo niemand so recht hineinsieht, nicht einmal sie selber. Deshalb dieses Erstaunen über das Ergebnis, die sichtbar gewordenen Reste eines in Aufruhr befindlichen Ich.
Ist das jetzt nicht alles recht privat? Warum sollen uns die emotionalen Aufschwünge, Umschwünge und Abstürze eines Menschen interessieren, mit dem wir nicht so recht vertraut sind?
Wir können uns schützen vor dem Angriff der Gefühlswelt auf die Sicherheit unserer wohl geordneten Welt, indem wir auf Distanz gehen, das Bild in seiner Gesamtheit als organisierte Fläche wirken lassen, das Farbenspiel bewundern, uns an harten Schnitten und weichen Übergängen erfreuen, beobachten, wie sich ein Hintergrund einstellt, wenn sich Farben über andere hinwegsetzen und sich in den Vordergrund drängen. Dann sehen wir Kunst als ein ästhetisches Phänomen, das uns nichts anhaben kann, weil, wenn es friedfertig an der Wand hängt, der kämpferische Prozess des Werdens schon gelaufen ist.
Wir können uns diesem Angriff der Gefühlswelt auf unsere wohl geordnete Welt aussetzen, indem wir uns dem Prozesscharakter überlassen, uns hineinziehen lassen in die vor Spannung vibrierende Welt dieser Bilder, in denen alles offen ist, weil sich die Dynamik des Kampfes der Elemente untereinander in unserer Seele fortsetzt. Dann sind wir Gefangene der Eva Kaiser, die uns in den Bann ihrer Bilder geschlagen hat, und dagegen hilft kein Gegenzauber.
Dr. Anton Thuswaldner
Journalist